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Erschütterung des Beweiswerts einer AU im Zusammenhang mit Kündigungen – das sagen die Gerichte

Arbeitgeber ärgern sich häufig, dass die Rechtsprechung ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nach wie vor einen hohen Beweiswert beimisst. Der Ärger rührt natürlich auch daher, dass es leider Ärzte gibt, die Beschäftigte „auf Zuruf“ krankschreiben.
Deshalb war die Erleichterung groß, als das Bundesarbeitsgericht per Urteil vom 08.09.2021 (Az.: 5 AZR 149/21), über das wir in unserem Newsletter vom 05.01.2022 berichtet hatten, entschied:
Der Beweiswert einer AU ist erschüttert, wenn sich Beschäftigte zeitgleich mit einer von ihnen selbst ausgesprochenen Kündigung (sogenannte Eigenkündigung) passgenau bis zum Ende der Kündigungsfrist krankmelden. In dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall war es so, dass eine Arbeitnehmerin selbst gekündigt und zeitgleich mit der Kündigung eine AU vorlegt hatte, die den Zeitraum von sechs Wochen bis zum Ablauf der Kündigungsfrist passgenau abdeckte. Diese Umstände, vor allem aber die zeitliche Koinzidenz, waren nach Ansicht des BAG geeignet, den Beweiswert der AU zu erschüttern.

In der Folge haben Arbeitgeber in „Verdachtslagen“ natürlich versucht, diese Rechtsprechung auch auf andere Fallkonstellationen zu übertragen. Viele davon gingen vor die Arbeitsgerichte, sodass die Arbeitsgerichte sich seither vor allem mit folgenden Fragen befassen mussten:

  • Gilt die vom Bundesarbeitsgericht befürwortete Erschütterung des Beweiswerts nur für Eigenkündigungen, oder auch für Arbeitgeberkündigungen?
  • Ist der Beweiswert auch erschüttert, wenn nicht nur eine, sondern mehrere AU vorgelegt werden, die passgenau bis zum Ende der Kündigungsfrist reichen?
    Was heißt passgenau?
  • Was ist, wenn Beschäftigte schon vor der Kündigung krank waren und dann bis zum Ablauf der Kündigungsfrist krank bleiben?
  • Und was ist mit passgenauen AU vor einem befristungsbedingten Ende eines Arbeitsverhältnisses?

Mittlerweile gibt es eine Fülle von Urteilen, die sich mit diesen Fragen befassen.
Damit Sie den Überblick behalten, haben wir die Ergebnisse dieser Urteile in einer Tabelle für Sie zusammengetragen, die Sie 👉 hier 👈 einsehen können.

Aus diesen, teils allerdings noch nicht rechtskräftigen Entscheidungen lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:

  1. Der wichtigste Anknüpfungspunkt für die Erschütterung des Beweiswertes ist die zeitliche Koinzidenz, also die Passgenauigkeit der vorgelegten AU-Bescheinigung(en) mit dem Ausspruch der Kündigung und dem Ablauf der Kündigungsfrist/dem Ende des Arbeitsverhältnisses. Gibt es diese Passgenauigkeit nicht, z.B. weil sich Beschäftigte nicht „postwendend“ nach der Kündigung krankmelden oder vorher schon erkrankt waren, findet die Rechtsprechung des BAG keine Anwendung.
    Unterschiedlich beantwortet wird die Frage, ob der Beweiswert auch dann erschüttert ist, wenn Beschäftigte nach Ausspruch einer Kündigung nur noch kurz ihrer Tätigkeit nachgehen. Bei bis zu zwei Tagen kann man noch über eine Erschütterung des Beweiswerts nachdenken, wobei auch das nicht unumstritten ist; wird nach Ausspruch einer Kündigung noch länger als zwei Tage gearbeitet, dürfte eine Analogie zum BAG-Urteil ausscheiden.
  2. Liegt eine Passgenauigkeit vor, haben sich mehrere Gerichte dafür ausgesprochen, dass es dann keinen Unterschied macht, ob nur eine AU oder mehrere AU für den Zeitraum vorgelegt werden.
  3. Auch die Tatsache, dass der Arbeitgeber kündigt (und nicht die Beschäftigten selbst), scheint grds. nicht entscheidend zu sein; auch passgenaue AU bis zum Ende einer Befristung können nach den bislang vorliegenden Entscheidungen den Beweiswert erschüttern.

Feststehen dürfte aber schon jetzt: Melden sich Beschäftigte zeitlich unmittelbar auf eine Kündigung für den Rest des Arbeitsverhältnisses krank, ist das ein erstes Indiz für die Erschütterung des Beweiswerts der AU und es lohnt sich in solchen Fällen, genauer hinzusehen.
Genauer hinsehen heißt, dass Beschäftigte in solchen Fällen erstmal (also bevor gezahlt wird) aufgefordert werden sollten, Auskunft zu erteilen. Denn das Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil vom 08.09.2021 (Az.: 5 AZR 149/21) auch gesagt:
Ist der Beweiswert der AU erschüttert, müssen Beschäftigte darlegen,

  • welche Krankheit/Krankheiten seit Beginn der Erkrankung vorgelegen haben,
  • welche gesundheitlichen Einschränkungen, auch im Hinblick auf die geschuldete Tätigkeit bestanden haben,
  • welche Verhaltensmaßregel oder Medikamente ärztlich verordnet worden sind und
  • welche konkreten Auswirkungen die zuvor genannten Umstände auf die Arbeitsfähigkeit gehabt haben.

In vielen Fällen werden Beschäftigte diese Auskünfte nach unserer Erfahrung schon nicht, auch nicht unter Hinzuziehung des behandelnden Arztes bzw. der behandelnden Ärztin, die sie ggfs. dem Arbeitgeber gegenüber von der Schweigepflicht entbinden müssen, ordnungsgemäß erteilen.
Und dann besteht auch weiterhin kein Grund, solchen Beschäftigten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu leisten.
 
Wird die Auskunft dagegen ordnungsgemäß erteilt, entfällt der Grund für ein Zurückhalten der Lohnfortzahlung. Dann muss gezahlt werden.
Ist der Beweiswert einer AU erschüttert, bedeutet das also nicht, dass Arbeitgeber nicht mehr zahlen müssen. Die Erschütterung des Beweiswerts der AU heißt nicht mehr, aber eben auch nicht weniger, als dass Beschäftigte sich nun konkret zu ihrer Arbeitsunfähigkeit (denn nicht jede Krankheit bedeutet auch eine Arbeitsunfähigkeit) äußern müssen. Freilich gibt es außer den hier besprochenen Fällen auch andere Fälle, in denen der Beweiswert einer AU erschüttert sein kann.
 
Und auch ohne dass der Beweiswert einer AU erschüttert ist, gibt es gerade bei aufeinanderfolgenden AU Fälle, in denen Arbeitgeber Beschäftigte erstmal zur Auskunft auffordern und die Lohnfortzahlung verweigern können. Wir denken hier vor allem an die in unseren Newslettern schon oft besprochenen Fälle der Fortsetzungserkrankung (die trotz mehrerer Erstbescheinigungen vorliegen kann) sowie die Fälle des sogenannten einheitlichen Verhinderungsfalls, zuletzt in unserem Newsletter vom 10.05.2023.

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