BAG ändert seine Rechtsprechung zur Massenentlassung
Jetzt ist es amtlich: Für die Massenentlassung gilt der europäische und nicht der deutsche Betriebsbegriff.
Dies und noch viel mehr hat das Bundesarbeitsgericht in seinem gerade im Volltext veröffentlichen Urteil vom 13.02.2020 (Az.: 6 AZR 146/19) entschieden.
Hier alle wesentlichen Feststellungen des Bundesarbeitsgerichts im Überblick:
- Für die Massenentlassung gilt der europäische und nicht der deutsche Betriebsbegriff.
Das bedeutet konkret: Der Betrieb muss keine eigene Leitung haben, die selbständig Massenentlassungen vornehmen kann. Vielmehr reicht es aus, wenn es in dem Betrieb eine Leitung gibt, die nur die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit, die Kontrolle der Einrichtungen der Einheit sowie die Lösung technischer Probleme sicherstellt.
Die räumliche Entfernung eines solchen Betriebs zum Hauptbetrieb spielt keine Rolle.
Auch Betriebsteile, die die Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes nicht erfüllen, können daher Betriebe im Sinne der Vorschriften über Massenentlassungen (§§ 17 ff. des Kündigungsschutzgesetzes) sein.
Dafür genügt es von nun an, wenn der Betrieb eine stabile organisatorische Struktur mit einer Leitung hat, die für die reibungslosen betrieblichen Abläufe sorgt.
An diese Leitung sind laut Bundesarbeitsgericht keine hohen Anforderungen zu stellen. Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass die Leitungspersonen Befugnisse haben, die sich auf personelle und soziale Angelegenheiten erstrecken.
Praktisch bedeutet das, dass die Anforderungen an den Betriebsbegriff bei Massenentlassungen gesenkt worden sind.
Hiervon werden insbesondere Unternehmen mit einer Filialstruktur profitieren. Denn diese Unternehmen müssen und dürfen jetzt meistens davon ausgehen, dass jede Filiale bei einer Massenentlassung als eigener Betrieb betrachtet wird.
Da der Massenentlassungsschutz der §§ 17 ff. des Kündigungsschutzgesetzes erst einsetzt, wenn der (jeweilige) Betrieb mehr als 20 Arbeitnehmer regelmäßig beschäftigt, wird der Massenentlassungsschutz viele solcher Unternehmen daher gar nicht mehr betreffen.
Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist das hinzunehmen. Begründung des Bundesarbeitsgerichts:
Beim Massenentlassungsschutz geht es primär darum, die sozioökonomischen Auswirkungen in Grenzen zu halten. Bei Entlassungen in kleinteiligen Strukturen wird der örtliche Arbeitsmarkt aber typischerweise nicht sonderlich belastet, sodass ein Massenentlassungsschutz nicht erforderlich ist. - Sind die in § 17 Abs. 1 des Kündigungsschutzgesetzes genannten Schwellenwerte in einer solchen betrieblichen Einheit erreicht, ist das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 des Kündigungsschutzgesetzes mit der nach nationalem Recht zuständigen Arbeitnehmervertretung, insbesondere also mit dem für diese Einheit zuständigen Betriebsrat durchzuführen.
Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die Einheit selbst betriebsratsfähig ist oder nicht. Wenn für die nicht betriebsratsfähige Filiale o. ä. also beispielsweise der für den Hauptbetrieb gewählte Betriebsrat zuständig ist, ist das Konsultationsverfahren mit diesem durchzuführen.
Wörtlich sagt das Bundesarbeitsgericht:
„Das Betriebsverständnis des § 17 KSchG hat nicht zur Folge, dass der Arbeitgeber kein Konsultationsverfahren i. S. v. § 17 Abs. 2 KSchG durchführen muss, wenn aufgrund des abweichenden betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriffs des deutschen Rechts für den Betrieb i. S. d. MERL kein eigenes Arbeitnehmervertretungsgremium gewählt ist.
Ungeachtet des unionsrechtlich determinierten Verständnisses des Betriebsbegriffs sind die von § 17 Abs. 2 KSchG geforderten Konsultationen bei unionsrechtkonformem Verständnis dieser Norm mit der nach nationalem Recht zuständigen Arbeitnehmervertretung durchzuführen. Besteht ein nach nationalem Recht gewähltes Gremium, das (auch) die Arbeitnehmer des Betriebs i. S. d. § 17 KSchG repräsentiert, muss der Arbeitgeber daher dieses Gremium beteiligen.“
Die Beteiligung des Betriebsrats setzt allerdings, wie schon gesagt, voraus, dass in dem Betrieb bzw. der betrieblichen Einheit die in § 17 Abs. 1 des Kündigungsschutzgesetzes verankerten Schwellenwerte erreicht werden.
Filialbetriebe, die nicht mehr als 20 Arbeitnehmer regelmäßig beschäftigen, müssen daher kein Konsultationsverfahren durchführen, selbst wenn es einen für sie zuständigen Betriebsrat gibt. - Eine für einen solchen Betrieb bzw. eine solche betriebliche Einheit zuständige Schwerbehindertenvertretung ist dagegen nicht in das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 des Kündigungsschutzgesetzes einzubeziehen.Damit hat das Bundesarbeitsgericht der anderslautenden Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 11.07.2019 (Az.: 21 Sa 2100/18) eine Absage erteilt.
- Die Massenentlassungsanzeige ist demnach bei der für den nach dieser neuen Rechtsprechung definierten Betrieb bzw. diese betriebliche Einheit zuständigen Arbeitsagentur zu erstatten. Geschieht das nicht, ist auch die Kündigung unwirksam.
- Eine bei der für den Hauptsitz des Unternehmens zuständigen Arbeitsagentur erstattete Sammelanzeige für mehrere betroffene Betriebe löst das gerade beschriebene Problem nur dann, wenn im Rahmen der Sammelanzeige für jeden betroffenen Betrieb ein eigener Vordruck ausgefüllt und die Betriebsstruktur in der Anzeige zutreffend dargestellt wird.
- Die in § 17 Abs. 3 Satz 4 des Kündigungsschutzgesetzes aufgeführten sogenannten „Muss-Angaben“ müssen dementsprechend für den (jeweiligen) Betrieb und nicht für das Unternehmen oder sonst was erfolgen.
Anderenfalls ist die Kündigung auch deshalb unwirksam.
Die Entscheidung kommt aufgrund der CORONA-Krise und deren noch nicht absehbaren Auswirkungen zur rechten Zeit. Der Air-Berlin, gegen die das Bundesarbeitsgericht entschieden hat, sei Dank.
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