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Die neuen Leitplanken des BAG zur Beweiswerterschütterung von AU nach Kündigung

Wir haben in letzter Zeit häufiger über die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) im Zusammenhang mit Kündigungen berichtet. Zuletzt hatten wir Ihnen in unserem Newsletter vom 18.12.2023 das neueste Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13.12.2023 (Az.: 5 AZR 137/23) zu dieser Thematik vorgestellt. Damals hatten wir unsere Analyse auf die Pressemitteilung gestützt. Nun liegt das Urteil im Volltext vor. Zwar ergibt sich hieraus nichts wesentlich Neues. Wir möchten dies aber zum Anlass nehmen, die aktuellen Leitplanken des Bundesarbeitsgerichts für Sie zusammenzufassen:

  1. Der wichtigste Anknüpfungspunkt für die Erschütterung des Beweiswertes bleibt die zeitliche Koinzidenz, also die Passgenauigkeit der ärztlich festgestellten AU mit dem Ausspruch der Kündigung und dem Ablauf der Kündigungsfrist.

  2. Neu ist: Der Umstand, dass Beschäftigte schon vor der Kündigung arbeitsunfähig erkrankt waren, steht der Passgenauigkeit nicht entgegen. Vielmehr gilt: Bleiben Beschäftigte, die bereits vor der Kündigung krank waren, bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiterhin krank, spricht grundsätzlich (insbesondere bei Langzeiterkrankungen wird man hier wohl eine Ausnahme machen müssen) ebenfalls viel für eine Erschütterung des Beweiswerts der nach Ausspruch der Kündigung vorgelegten AU. 

  3. Ebenfalls neu: Liegt eine Passgenauigkeit vor, macht es keinen Unterschied, ob nur eine AU oder mehrere AU für den Zeitraum vorgelegt werden. Das BAG schloss sich hier der Ansicht einiger (Landes-)arbeitsgerichte an.

  4. Die Passgenauigkeit, für die es nach dem aktuellen Urteil des Bundesarbeitsgerichts jetzt die zuvor gestellten Varianten gibt, setzt grundsätzlich voraus, dass Beschäftigte nach Ablauf der Kündigungsfrist nicht weiter krank sind (denn sonst wäre die AU ja auch nicht passgenau mit dem Ablauf der Kündigungsfrist). In unserem Newsletter vom 18.12.2023 hatten wir deshalb gefragt, wie der Altarbeitgeber denn wissen soll, ob es eine über den Ablauf der Kündigungsfrist hinausgehende AU gab. Wir hatten insoweit ein Auskunftsrecht des Altarbeitgebers ins Spiel gebracht. Wahrscheinlich muss man den Auskunftsanspruch aber gar nicht bemühen. Wahrscheinlich reicht es, dass der Altarbeitgeber das vorträgt, was er weiß, nämlich die Passgenauigkeit der AU, und es dann Sache der Beschäftigten ist, das zu entkräften.

  5. Neu ist außerdem: Auch die Tatsache, dass der Arbeitgeber kündigt (und nicht die Beschäftigten selbst), spielt nach Ansicht des BAG keine Rolle.  

Durch die vom Bundesarbeitsgericht weiterentwickelten Leitplanken haben sich etliche Fragen geklärt, mit denen sich Arbeits- und Landesarbeitsgerichte seit der „Leitentscheidung“ des Bundesarbeitsgerichts vom 08.09.2021 gequält hatten, vgl. dazu auch unseren Newsletter vom 24.10.2023.

Arbeitgeber dürfen allerdings nicht vergessen, dass Leitplanken Grundsätze sind, und es von jedem Grundsatz Ausnahmen gibt. Und zwar in beide Richtungen.

So ist beispielsweise denkbar, dass eine der genannten Leitplanken nicht erfüllt ist (z. B. weil der Beschäftigte nach der Kündigung erst noch zwei Tage bis zur Vorlage der AU weiterarbeitet), es aber weitere Indizien gibt, die an dem Beweiswert der AU zweifeln lassen (z. B. weil der gleiche Beschäftigte gegenüber Kolleg:innen angekündigt hat, nur noch die zwei Tage „abzusitzen“ und sich dann zu verabschieden).
Umgekehrterweise kann es auch sein, dass sich ein Fall innerhalb der Leitplanken bewegt, an der AU aber aus anderen Gründen keine Zweifel bestehen (z. B. weil der Beschäftigte sich am Tag der Kündigung ein Bein bricht und der deswegen erforderliche Krankenhausaufenthalt passgenau mit Ablauf der Kündigungsfrist endet).

Nichts destotrotz sind diese Leitplanken ein wichtiges Instrument, um sich gegen zweifelhafte AU zur Wehr zu setzen.

Natürlich werden sich die neuen Leitplanken auch bei den Beschäftigten herumsprechen. Beschäftigte, die in Wahrheit nicht krank sind, werden daher in Zukunft dafür Sorge tragen, die Passgenauigkeit zu zerstören.

Denkbare Fälle sind z. B. die folgenden:

  • Beschäftigte melden sich nicht direkt nach Ausspruch der Kündigung, sondern erst einige Tage danach, dafür dann aber passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist krank.
    Hier wird sich die Rechtsprechung fragen müssen, ob man nicht auch dann noch von einer Passgenauigkeit sprechen kann, wenn Beschäftigte bloß noch ein oder zwei Tage nach Ausspruch der Kündigung im Dienst gewesen sind.
    Denkbar ist durchaus, dass sich die Rechtsprechung dahin entwickeln wird, dass bei nur wenigen Arbeitstagen nach Ausspruch einer Kündigung der Beweiswert der AU trotzdem erschüttert ist.

  • Mit Spannung zu erwarten sind auch künftige Entscheidungen zu Fällen, in denen die Abwesenheit von Beschäftigten zwar alle Kriterien der Passgenauigkeit erfüllt, sich deren Abwesenheit aber nicht nur aus AU, sondern z. B. aus AU in Verbindung mit dem Abbau von Arbeitszeitguthaben oder der Inanspruchnahme von Resturlaub ergibt.
    Auch hier meinen wir, dass auch das Fälle sein können, in denen Arbeitgeber mit der Erschütterung des Beweiswerts der AU arbeiten können. Denn auch solche Fälle erwecken den Anschein, dass Beschäftigte es darauf anlegen, nach Ausspruch einer Kündigung nicht mehr im Betrieb zu erscheinen.

Schauen wir mal, was die Zukunft noch bringt.
 
Wir halten Sie wie immer auf dem Laufenden.

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