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Schwerbehinderte Menschen im Bewerbungsprozess (Teil 4):
Unwissenheit schützt vor Strafe nicht – wir bessern Ihr Wissen auf

In unserem Beitrag vom 13.06.2025 ging es um das gerade veröffentlichte Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG), das entschieden hatte:

Arbeitgeber sind verpflichtet, die Agentur für Arbeit aktiv damit zu beauftragen, ihnen schwerbehinderte oder gleichgestellte Bewerber:innen zu vermitteln. Die bloße Veröffentlichung einer Stellenanzeige in z. B. der Jobbörse der Arbeitsagentur genügt nicht. Tun Arbeitgeber das nicht, haben sie ein Indiz für eine unzulässige Diskriminierung gesetzt (BAG, Az.: 8 AZR 123/24).

Zwar ist es dem Arbeitgeber im entschiedenen Fall gelungen, das Indiz zu entkräften, weil das Bewerbungsverfahren zum Zeitpunkt der Bewerbung nachweislich abgeschlossen war.
Das zu erreichen, war für den Arbeitgeber aber ein sehr mühsamer Prozess und das hätte auch leicht ins Auge gehen können.

Deshalb hatten wir uns in unserem Bericht auf die wesentliche Botschaft beschränkt und raten HR:

Lassen Sie es besser gar nicht dazu kommen, dass eine unzulässige Diskriminierung von schwerbehinderten / gleichgestellten Beschäftigen vermutet wird. Denn haben Sie erstmal ein Indiz für eine solche Diskriminierung gesetzt, ist es verdammt schwer (und gelingt sehr oft nicht), die Vermutung zur Überzeugung der Gerichte zu widerlegen. Außerdem ist der prozessuale „Widerlegungs-Aufwand“ erheblich.

Bitte bedenken Sie dabei auch, dass das oft gebrauchte Argument, dass der Bewerber schon die formalen Qualifikationskriterien nicht erfüllt, häufig nicht zieht. Nach der BAG-Rechtsprechung greift das Argument nämlich nur dann, wenn formale Qualifikationen und Anforderungen unverzichtbare Voraussetzungen für die Ausübung der Tätigkeit sind. Die Hürden sind also hoch.

Durch die Kommentare, die uns nach unserem Beitrag vom 13.06.2025 erreicht haben, haben wir gesehen, dass es noch viel Unwissenheit und Unsicherheit im Zusammenhang mit den besonderen Verfahrensvorschriften für Schwerbehinderte/Gleichgestellte gibt.

Diese Unwissenheit schützt vor Strafe jedoch nicht.
Denn das BAG sagt:

Arbeitgeber, die die besonderen Verfahrens- und Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter / gleichgestellter Beschäftigter verletzen, zeigen, dass sie kein Interesse an deren Beschäftigung haben. Und schon diese Interessenlosigkeit ist ein Indiz für eine unzulässige Diskriminierung solcher Menschen.
Interessenlos ist aber auch jemand, der die besonderen Vorschriften nicht kennt.

Grund genug für uns, mit Ihnen noch einmal einen Schnelldurchlauf durch die besonderen Verfahrens- und Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter / gleichgestellter Menschen zu unternehmen.

1. Im Bewerbungsprozess
Im Bewerbungsprozess muss der Blick auf § 164 Absatz 1 SGB IX gerichtet werden.

a) Vermittlungsauftrag an die Agentur für Arbeit, § 164 Absatz 1 Satz 1 bis Satz 3 SGB IX

Was diese Vorschrift nach dem letzte Woche veröffentlichten BAG-Urteil (Az.: 8 AZR 123/24) bedeutet, hatten wir in unserem eingangs nochmal zusammengefassten Beitrag vom 13.06.2025 inklusive unseres Links zu unserem noch ausführlicheren Bericht zur Entscheidung der Vorinstanz gesagt.

b) Einbindung von Schwerbehindertenvertretung und Betriebsrat in das Prüf- und Bewerbungsverfahren mit schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen

  • Nach § 164 Absatz 1 Satz 6 SGB IX müssen Unternehmen bei der Prüfung der Frage, ob freie / freigewordene Arbeitsplätze mit schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen besetzt werden können (also schon in der Prüfphase) die Schwerbehindertenvertretung beteiligen und den Betriebsrat anhören. Diese Pflicht entsteht, sobald neue Arbeitsplätze geschaffen oder freiwerdende Arbeitsplätze wieder besetzt werden sollen. Die Arbeitsagentur soll durch den ihr erteilten Vermittlungsauftrag in diesem Prüfprozess zusätzlich unterstützen.Es wird sogar vertreten, dass die Schwerbehindertenvertretung bereits bei der Festlegung des Anforderungsprofils in den Prüfprozess einzubeziehen ist.

  • Gehen Bewerbungen oder Vermittlungsvorschläge der Arbeitsagentur ein, müssen Unternehmen die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat unterrichten, und zwar unmittelbar nach deren Eingang, § 164 Absatz 1 Satz 4 SGB IX.

    Hierbei reicht es nicht, dass alle Bewerbungsunterlagen auch der Schwerbehindertenvertretung sozusagen kommentarlos zugänglich gemacht werden. Vielmehr muss die Schwerbehindertenvertretung zusätzlich darauf hingewiesen werden, welcher der Bewerber schwerbehindert ist (LAG Berlin-Brandenburg, Az.: 15 Sa 949/19). Liegt eine Bewerbung eines schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen vor, hat die Schwerbehindertenvertretung nach Meinung des Hessischen LAG (Az.: 9 TaBV 128/15) außerdem das Recht, an sämtlichen Bewerbungsgesprächen teilzunehmen, da sie sich nur so ein Bild machen kann, wie die Bewerbung des schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen einzuordnen ist.

    Und das ist noch nicht alles.

  • Sind Sie und die Schwerbehindertenvertretung / der Betriebsrat bei der Besetzung des freien oder wieder zu besetzenden Arbeitsplatzes mit einem schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen nicht einer Meinung, müssen Sie die von Ihnen beabsichtigte Entscheidung mit den Gremien erörtern und hierbei auch den betroffenen schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen anhören.

    Diese Erörterungspflicht ist allerdings kein Mitbestimmungsrecht der Gremien. Weder Schwerbehindertenvertretung noch Betriebsrat können Sie folglich zwingen, einen schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen einzustellen, wenn Sie dies nicht möchten.

    Bleiben Sie bei Ihrer ablehnenden Entscheidung, müssen Sie dies allen Beteiligten (Schwerbehindertenvertretung, Betriebsrat und der betroffenen Person) allerdings begründen.

    Das ergibt sich aus § 164 Absatz 1 Satz 7 bis 9 SGB IX.

    Aber Achtung:
    Diese Erörterungs- und Begründungspflichten haben Sie als Arbeitgeber nur dann, wenn Sie die Beschäftigungsquote des § 154 Absatz 1 SGB IX nicht erfüllen, d. h. nicht schon genug schwerbehinderte/gleichgestellte Beschäftigte haben.

Soweit ein Überblick über die besonderen Verfahrens- und Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter / gleichgestellter Menschen im Bewerbungsprozess privatschaftlicher Arbeitgeber. Die Pflichten öffentlicher Arbeitgeber gehen noch darüber hinaus (§ 165 SGB IX).
Bitte bedenken Sie, dass die Anforderungen des BAG an den Vortrag der Beschäftigten gering sind, da es sich bei den Vorschriften rund um das Bewerbungsverfahren um betriebsinterne Vorgänge handelt, die Betroffene nicht kennen können (BAG, Az.: 8 AZR 136/22).
 
c) Kenntnis von der Schwerbehinderung / Gleichstellung ist erforderlich

All das müssen Sie als Arbeitgeber nur beachten, wenn Ihnen die Schwerbehinderung / Gleichstellung aus der Bewerbung bekannt ist. Bewerber sind nach der Rechtsprechung des BAG verpflichtet, die Information entweder im Lebenslauf oder an hervorgehobener Stelle im Bewerbungsschreiben zu geben. Eingestreute oder unauffällige Informationen genügen ebenso wenig wie indirekte Hinweise durch Beifügung amtlicher Dokumente. Auf eine deutliche Information über eine Schwerbehinderung / Gleichstellung darf der Bewerber nur verzichten, wenn die Behinderung offensichtlich ist, insbesondere aufgrund eines Bewerbungsfotos. Die Bezeichnung als Gleichgestellter setzt einen formalen Gleichstellungsbescheid voraus. Bei der Gleichstellung ist der Bescheid also konstitutiv, vgl. BAG (Az.: 8 AZR 212/22) und (Az.: 7 ABR 18/18) sowie unsere Beiträge vom 21.08.2024 und 11.08.2020.
 
Aber Achtung:
Nutzen Sie ein Online-Bewerberportal und möchten Sie nur die in dem dort eingestellten Formular gegebenen Hinweise berücksichtigen, müssen Sie das laut LAG Hessen (Az.: 7 Sa 753/22) deutlich zum Ausdruck bringen; hierüber hatten wir in unserem Beitrag vom 21.08.2024 berichtet.
 
Es sind also viele Dinge zu beachten, möchte man sich erst gar nicht dem Vorwurf schwerbehinderter/gleichgestellter Menschen aussetzen. Werden diese Pflichten erfüllt.
Werden diese Pflichten erfüllt, sind auch AGG-Hopper chancenlos.
 
2. Verfahrens- und Förderpflichten im bestehenden Beschäftigungsverhältnis mit schwerbehinderten / gleichgestellten Beschäftigten
Eine Verletzung von Verfahrens- und Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter/gleichgestellter Menschen kann es freilich auch nach deren Einstellung geben.
Hierzu einige Beispiele, die oft nicht bedacht werden:

  • Die Durchführung des Präventionsverfahrens nach § 167 Absatz 1 SGB IX ist eine solche Pflicht, die Sie ebenfalls nicht verletzen sollten.
    Anders entschieden hat das BAG beim Unterlassen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM). Laut BAG ist ein unterlassenes BEM kein Indiz für eine unzulässige Benachteiligung, da die Vorgaben für das BEM für alle Beschäftigten und nicht nur schwerbehinderte / gleichgestellte Menschen gelten, BAG (Az.: 8 AZR 191/21).
    Wer uns folgt, weiß, dass mittlerweile sogar darüber gestritten wird, ob ein Präventionsverfahren schon innerhalb der ersten 6 Monat des Beschäftigungsverhältnisses durchgeführt werden muss, vgl. unseren Beitrag vom 23.10.2024 mit weiterführenden Hinweisen.

  • Eine ebensolche Pflicht ist die Einholung der Zustimmung des Inklusionsamtes, bevor eine Kündigung ausgesprochen wird.

  • Streitig ist, ob die noch nicht erfolgte Bestellung eines Inklusionsbeauftragten gemäß § 181 SGB IX ein Indiz für eine unzulässige Diskriminierung ist. Das LAG Nürnberg (Az.: 4 Sa 178/23) hat das verneint, das LAG Hamm (Az.: 14 Sa 142716) hat das bejaht.
    Über die in dem LAG-Nürnberg-Fall eingelegte Revision wird das BAG (Az.: 8 AZR 276/24) am 26.06.2025 entscheiden.

  • Die Nürnberger Landesarbeitsrichter haben außerdem entschieden, dass die unterlassene Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nach § 187 Absatz 2 Satz1 SGB IX vor Ausspruch einer Abmahnung kein Indiz für eine unzulässige Diskriminierung ist, da sie die Belange schwerbehinderter / gleichgestellter Menschen (verglichen mit anderen Beschäftigten) nicht in besonderer Weise berührt. 

Es ist also mal wieder alles gar nicht so leicht.
 
Deshalb: Wenn Sie in diesem Bereich gerne eine Schulung oder einen Workshop machen möchten, sprechen Sie uns gerne an. Durch unsere hauseigene Seminargesellschaft haben wir viel Erfahrung mit solchen Veranstaltungen.

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